Inhalt anspringen

Stadtarchiv Bergheim

Gruppe Zeitzeugeninterviews

Auch heute erfahren Jüdinnen und Juden Anfeindungen in Deutschland. Wie es ist in Deutschland jüdisch zu sein erzählten Dr. Dana Sewii und Inessa Bergs dem Projektkurs.

Interview mit Inessa Burdsgla, Inhaberin der Tanzschule Belaro

Im Rahmen unserer Q1-Zeitzeugen- Projektwoche 2022 interviewten wir Inessa Bergs (inzwischen Burdsgla), Tänzerin und Inhaberin ihrer eigenen Tanzschule in Bergheim. Im Gespräch mit uns erzählte sie davon, wie ihr Leben bisher verlaufen ist und wie es sich verändert hat, nachdem sie sich letztes Jahr öffentlich zu ihren jüdischen Wurzeln bekannt hat. Was ihr besonders wichtig ist, ist ein offenes und friedliches Miteinander der Kulturen – zum Beispiel über den Tanz.


Wie geht es Inessa nach ihrem Outing als Jüdin?

Inessa hat sich letztes Jahr im Rahmen unseres Zeitzeugen-Projektkurses erstmals öffentlich als Jüdin geoutet – laut ihrer Aussage ist sie die einzige in Bergheim. Sie hatte Angst, dass dies zu Anfeindungen führen würde. Eine Zeit lang hat sie ihre Türen und Fenster überprüft und ist weniger rausgangen. Ihre Bekannten finden das Outing mutig, waren aber nicht schockiert. Für Inessa selbst ist Religion Privatsache, verändert hat sich für sie persönlich nichts an ihren Überzeugungen. Sie möchte ihre Religion in Zukunft zwar nicht mehr verheimlichen, aber auch keine Angriffsfläche bieten.

Kindheit in der Ukraine

Inessa ist 1979 in Kiew in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Sie kam Anfang der 90er Jahre mit ihrer Familie nach Deutschland. Ihre Mutter war Jüdin, ihr Vater georgisch-orthodox, auch sie wurde georgisch-orthodox getauft. Die Familie wollte ihre jüdischen Wurzeln wegen der vielen Anfeindungen und Diskriminierungen geheim halten. An Feiertagen oder wenn die Familie in die Synagoge ging, sagte Inessas Oma immer, sie sollen sagen, Tante Monika hätte Geburtstag. Feiertage verbrachten sie oft auch bei ihrer Oma im Innenhof, welcher versteckt lag. Selbst enge Freunde der Familie wussten nicht, dass sie jüdisch waren. Für jüdische Kinder war es schwer, einen Platz an einer guten Schule zu bekommen. Viele Mitschüler redeten nicht mit ihr. Nachdem bekannt wurde, dass ihre Familie nach Deutschland auswanderte, lag ihre jüdische Herkunft auf der Hand. Inessa durfte damals nicht mehr allein auf die Straße, sondern musste von ihrem Bruder oder Vater begleitet werden. Ihnen wurden oft Beleidigungen hinterher gerufen. Es wurde auch einmal ein Davidstern in ihre Tür geritzt, der dann angezündet wurde. Inessa erklärte, sie habe ihre Religion nicht bewusst verheimlicht, sondern wurde so erzogen. Sie sei froh, dass ihre Familie ausgewandert sei, weil sie keine Zukunft für sich und ihre Familie in der Ukraine gesehen hätte.

Ihr heutiger Umgang mit dem Judentum

Vor einigen Jahren, als Inessa in Frankfurt lebte, wurde ihre Haustür aufgebrochen. Sie hatte damals eine Wohnung in einem mehrstöckigen Haus, und es war die einzige Tür, die beschädigt war. Die Täter hatten versucht, die am Türrahmen befestigte Mesusa zu entfernen, die Nachbildung einer Schriftrolle, die zu jedem traditionell jüdischen Haushalt dazu gehört. Seitdem verzichtet Inessa auf die Mesusa. Auch ihren Davidstern trägt sie nicht mehr in der Öffentlichkeit, seit sie in Trier als junge Frau angepöbelt worden sei. Ihre Mutter bewahrt die Halskette für sie auf, um sie vor weiteren Vorfällen zu schützen. Der Vater von Inessas Tochter Evin ist Katholik, sie soll selbst entscheiden, welche Religion sie haben möchte – sie müsse sich dazu nicht äußern, wenn sie das nicht will. Ihre Tochter sagt heute, sie sei “jüdische Atheistin”.

Jüdisches Leben in Bergheim

In Bergheim gibt es nur noch wenige Berührungspunkte mit Jüdischem Leben. Es gäbe keine jüdische Gemeinde mehr, Feiertage wie das Lichterfest Chanukka seien hier nicht so selbstverständlich wie christliche Feiertage wie zum Beispiel Weihnachten. Grund dafür sei, dass Juden in Deutschland noch immer eine Minderheit sind. Um jüdisches Leben mehr im Alltag zu verankern, sollten Juden und Nicht-Juden sich mehr miteinander austauschen und ohne Schubladen-Denken besser kennen lernen.

Erinnerungskultur

Inessa findet es sehr wichtig, dass das schreckliche Kapitel des Holocausts nicht vergessen wird. Die Stolperstein-Aktion findet sie sehr sinnvoll – man stolpere wortwörtlich darüber und werde an die Verfolgung und Ermordung der Juden erinnert.
Anderseits kann sie es auch verstehen, dass Hauseigentümer aus Angst vor Antisemitismus Bedenken haben, Stolpersteine vor ihrer Haustür verlegen zu lassen.
Eine simple Beschilderung an den ehemaligen Wohnorten von Jüdinnen und Juden findet sie trotzdem zu wenig, weil diese diese leichter übersehen würden und so das Thema Antisemitismus nicht ins Bewusstsein brächten.

Bekenntnis zu ihren jüdischen Wurzeln

Vorheriges Jahr bekannte sich Inessa anlässlich der Projektwoche erstmalig öffentlich als Jüdin. Im Rahmen eines Tanzwettbewerbs hatte sie dies vorher schon einmal durch die Choreographie zu einem Musikstück aus “Schindlers Liste” offenbart. Sie freute sich sehr, dass sie und ihr Tream trotz erstmaliger Suspendierung den zweiten Platz belegten. Die Tatsache, öffentlich zu ihren Wurzeln zu stehen, bedeutet für sie auch ein Stück Freiheit – Freiheit, die ihr einst genommen wurde, als sie und ihre Familie ihre jüdische Herkunft verleugnen mussten, um zu überleben.
Inessa will sich nicht mehr verstecken und nach ihrer Scheidung statt ihres Ehenamens “Bergs” ihren ursprünglichen Familiennamen mütterlicherseits “von Berge” zurück, dessen Geschichte bis 1802 zurück geht. Ihr Antrag wurde jedoch bisher nicht genehmigt, weil sie wegen des Krieges in der Ukraine keine Unterlagen beschaffen kann. Deshalb trägt sie jetzt den Familiennamen väterlicherseits “Burdsgla”, der jedoch georgisch und nicht jüdisch ist. Diesen hatte die Familie angenommen, damit ihre jüdische Herkunft nicht auffällt. Inessa möchte mit ihrem ursprünglichen Familiennamen klar zeigen, das sie Jüdin ist.
Was sie sich für ein friedliches Miteinander wünscht ist, dass jeder sich mit der Geschichte auseinandersetzt und offen für andere Kulturen ist.
Bei ihrem Workshop zum jüdischen Tanz durften wir dies in der Projektwoche selbst erleben und die fröhlichen Seiten des jüdischen Lebens kennenlernen.

Autor*innen: Merle Ebbes und Finn Toma

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Kreisstadt Bergheim